EU-Handelsverträge gelten auch ohne abgeschlossene Ratifizierung

Die vorläufige Anwendung europäischer Handelsabkommen

Thomas Fritz

29. Februar 2016

Auch wenn es häufig Erstaunen hervorruft: EU-Handelsabkommen können vorläufig angewendet werden, selbst wenn die erforderliche Ratifizierung durch die EU-Mitgliedstaaten noch gar nicht abgeschlossen ist.

Sollte etwa das anstehende EU-Handelsabkommen mit Kanada (CETA) als gemischtes Abkommen eingestuft werden, was dann neben der Zustimmung des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments auch eine Ratifizierung in allen EU-Mitgliedstaaten erforderlich machen würde, kann es dennoch vor Abschluss der nationalen Ratifizierungen vorläufig angewendet werden.

Denn der EU-Rat hat die Möglichkeit, zusätzlich zur Unterzeichung des Abkommens auch einen Beschluss über dessen vorläufige Anwendung zu treffen. Übliche Praxis ist es dabei heute, zuvor noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments abzuwarten, obwohl dies nach EU-Recht nicht nötig wäre. Stimmen schließlich auch die Vertragspartner der vorläufigen Anwendung zu, entstehen völkerrechtlich bindende Verpflichtungen bereits vor dem endgültigen Inkrafttreten des Abkommens.

Das kann weitreichende Folgen haben: Im Fall von CETA etwa könnten Investoren EU-Mitgliedstaaten vor den geplanten Schiedstribunalen verklagen, selbst wenn die Parlamente der betroffenen Staaten dem Abkommen mitsamt seinen Tribunalen noch gar nicht zugestimmt haben. 

Vertrag mit Kolumbien: nicht ratifiziert, aber praktiziert

Ein aktuelles Beispiel für die vorläufige Anwendung bietet das Handelsabkommen, das die Europäische Union mit Kolumbien aushandelte. Nachdem der Rat, das Europäische Parlament und der kolumbianische Kongress zustimmten, wird der Vertrag seit August 2013 vorläufig angewendet. Doch drei EU-Staaten haben bisher noch gar nicht die nationale Ratifizierung abgeschlossen und ihre Entscheidung bei der EU notifiziert: Belgien, Österreich und Griechenland.

Für eine Verweigerung der Ratifizierung haben sie gute Gründe. In Kolumbien begehen nicht nur Paramilitärs und Guerillas, sondern auch Polizei- und Militäreinheiten schwerste Menschenrechtsverletzungen und genießen dabei weitgehende Straflosigkeit. Unternehmer wiederum beauftragen paramilitärische Truppen, um gegen Kleinbauern, Menschenrechtsverteidiger und Gewerkschafter vorzugehen.

Die Folgen sind verheerend. Nach Syrien ist Kolumbien das Land mit der weltweit größten Zahl intern Vertriebener: über sechs Millionen Menschen. Für Gewerkschafter ist es das gefährlichste Land der Erde: rund 3.000 von ihnen wurden seit den 80er Jahren ermordet.

Handelserleichterung für Menschenrechtsverletzer

Auch heute noch grassiert die Gewalt, wie die Dokumentationen von Menschenrechtsorganisationen und des Internationalen Gewerkschaftsbunds belegen. Allein im vergangenen Jahr wurden 54 Menschenrechtsverteidiger in Kolumbien umgebracht.

Das Handelsabkommen aber ermöglicht es auch jenen Unternehmen, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, ihre Produkte zu günstigeren Konditionen auf den europäischen Markt zu bringen, darunter Kaffee, Bananen, Palmöl oder Rohstoffe wie die Steinkohle, die Deutschland in großen Mengen importiert.

Zudem enthält der Vertrag, ähnlich wie alle anderen EU-Handelsabkommen, nur ein unverbindliches, nicht sanktionsbewehrtes Kapitel über Arbeits- und Umweltstandards. Aufgrund dieser Zahnlosigkeit bleibt die effektive Durchsetzung dieser Standards unmöglich. 

Die internationalen Gewerkschaftsdachverbände erklärten sich solidarisch mit den kolumbianischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und lehnten das EU-Kolumbien-Abkommen ab. Vor der Abstimmung im Europaparlament (EP) am 11. Dezember 2012 schickten der internationale, der amerikanische und der europäische Gewerkschaftsbund einen gemeinsamen Brief an die EP-Abgeordneten und forderten sie auf, gegen den Vertrag zu stimmen. Doch vergebens. Während Grüne und Linke des Abkommen ablehnten, stimmten Konservative, Liberale und Sozialdemokrat*innen mehrheitlich zu.

Im März 2013 gab der Bundestag seine Zustimmung zum Kolumbien-Abkommen. Im Mai 2013 erteilte ihm auch der Bundesrat mit knapper Mehrheit die Zustimmung. Damit wurde die nationale Ratifizierung in Deutschland abgeschlossen.

Vorläufige Anwendung als Dauerzustand

Nachdem die Ratifizierung auch in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten erfolgt ist, ruhen die Hoffnungen von Gewerkschaften nunmehr auf Belgien, Österreich und Griechenland. Dort haben die Abgeordneten noch die Möglichkeit, den Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen, indem sie die Zustimmung verweigern. 

Dennoch aber wird das EU-Kolumbien-Abkommen vorläufig angewendet und Unternehmen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, können von den Handelserleichterungen profitieren.

Die vorläufige Anwendung ist ein aus demokratischer Perspektive fragwürdiger Vorgang, denn die EU-Mitgliedstaaten genießen bei gemischten Handelsabkommen das Recht, ein nationales Ratifikationsverfahren über die Annahme des gesamten Vertragswerks durchzuführen. Dieses Recht aber bleibt weitgehend wirkungslos, wenn die Handelsverträge vorläufig angewendet werden.

Die "vorläufige" Anwendung kann überaus lang andauern, denn selbst wenn ein EU-Mitgliedstaat die Ratifikation verweigert, wird dieser Zustand dadurch allein noch nicht beendet. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags schreibt dazu: "Eine fehlende Ratifizierung in einem Mitgliedstaat hat auf die vorläufige Anwendung (...) keine direkten Auswirkungen."

Die vorläufige Anwendung könne nämlich erst durch eine Notifizierung der EU bei der kolumbianischen Regierung beendet werden, wozu es eines Ratsbeschlusses bedürfe. Dieser aber kann im Zweifel lang auf sich warten lassen.